Auszug aus “Gwyndharis Saga – Schatten über Gwyndhire”
Die Freunde wandten sich der Quelle zu. Fonso rückte sein Kurzschwert an der Hüfte zurecht, und auch Sophia hatte ihren Bogen dabei, den sie sich jetzt über den Kopf streifte, sodass sie ihn quer über Schulter und Brust trug.
»Also«, Cara blickte die Geschwister an. »Wir konzentrieren uns auf den Ort, wo das Buch ist, aber schalten jeden Gedanken an die Schwarze Macht aus. Fertig?«
Die beiden nickten.
Alle drei fassten sich für einen Moment an die Hände und sammelten sich. Dann holten sie tief Luft und tauchten zugleich mit einem Kopfsprung in den Lauf des Wasserfalls. Empor getragen vom Strahl des Wassers sausten sie auf den Felsenschlund zu und waren auch schon im Innern des Sphärentores verschwunden. Sie schossen durch den dunklen Tunnel, bis sie auf einmal herumgeschleudert wurden, und ehe sie sich versahen, waren sie wieder in der Quelle des Lunenhains gelandet. Sie schwammen zurück zum Ufer und sprangen gleich noch mal. Doch egal, wie oft sie es auch versuchten, das Sphärentor spuckte sie immer wieder aus, und sie landeten jedes Mal erneut in der Quelle. Schließlich gaben sie es nach unzähligen Versuchen auf und verschnauften erst einmal.
»Meint ihr, dass wir irgendetwas falsch gemacht haben?« Cara nagte an ihrer Unterlippe.
»Nee, d-das is es n-nich.« Fonso schüttelte den Kopf.
»Es muss daran liegen, dass wir nicht das Geringste über den Ort wissen, wo das Buch ist. Oder der Zugang ist verschlossen, wie das Sphärentor in Saras Garten«, sagte Sophia.
»Wahrscheinlich hast du recht«, seufzte Cara.
»V-Vielleicht sollten w-wir versuchen, M-Magan Magus zu finden«, schlug Fonso vor. »Das k-klappt manchmal, d-dass Sphärentore uns zu P-Personen bringen. Hat b-bei dir f-funktioniert, Cara«, grinste er sie an.
»Nee«, Cara schüttelte betrübt den Kopf. »Sara hat mir erzählt, dass er schon lange nicht mehr lebt.«
»V-Verflixte Ringelschnauz aber auch.« Fonso kickte einen kleinen Stein, sodass er im hohen Bogen in der Quelle landete. Schwermut schien sich auf alle drei nieder zu senken.
»Lasst uns besser von hier verschwinden«, raffte Sophia sich auf. »Wir sind bestimmt schon zu lange hier. Ich fange an, mich so komisch zu fühlen.«
Immer noch recht niedergeschlagen trotteten sie durch den Lunenstrahl.
»Hey, warum besuchen wir nicht Emilius Froderick?«, rief Cara plötzlich, und ihre Miene hellte sich auf. »Ich wollte immer schon mal seine Erfindungen sehen. Außerdem, vielleicht kriegen wir was aus ihm heraus. Wo das Buch ist oder was die Schwarze Macht ist. Er wirkt immer so zerstreut, vielleicht entschlüpft ihm etwas«, fügte sie listig hinzu.
»M-Mächtelstarke Idee, Cara«, grinste Fonso.
Sie verließen den Lunenstrahl und liefen zurück zum Dorf.
Bei dem Giebelhäuschen angekommen, klopften sie erwartungsvoll an Emilius Frodericks Haustür. Im Gegensatz zu sonst war es beunruhigend still im Haus. Cara klopfte erneut. Als sich nichts regte, versuchte sie durchs Fenster zu schauen. Sie konnte jedoch nichts erkennen.
»Der ist bestimmt auch bei den Festwettkämpfen«, sagte Sophia, »hätten wir uns ja eigentlich denken können.«
»Verflixt noch mal, heute klappt aber auch gar nichts.« Cara setzte sich auf die Steinstufe und starrte missmutig vor sich hin.
Plötzlich vernahmen sie ein Wimmern, gefolgt von einem Stöhnen. Alarmiert schauten die Freunde sich an.
»Was war das?«, flüsterte Sophia.
Cara sprang auf und schaute erneut durchs Fenster. Sie glaubte zu sehen, wie sich etwas auf dem Boden bewegte. »Herr Froderick? Herr Froderick!« Sie klopfte aufgeregt an die Fensterscheibe. Wieder hörten sie ein Stöhnen, das aus dem Inneren des Hauses zu kommen schien. »Da stimmt was nicht«, sagte Cara beunruhigt. »Kommt, lasst uns reingehen und nachschauen.«
Die Haustür war jedoch verschlossen.
»Verflixt! Was jetzt?« Ratlos schaute Cara die Geschwister an.
»Da g-g-gibt‘s noch ‘ne Hintertür im G-Garten. Kommt!«
Fonso raste um das Haus herum, dicht gefolgt von Cara und Sophia. Die Gartentür stand weit offen und die drei stürmten in das Giebelhäuschen. Fonso führte den Weg voran in die Werkstatt des Erfinders, wo sie ein heilloses Durcheinander erwartete. Die Wände und Decke waren verkohlt und es hing ein beißender Schwefelgeruch in der Luft. Fassungslos starrten die Cara und die Geschwister auf die zerstörte Einrichtung der Werkstatt. Das gesamte Ateliers lag in Schutt und Asche.
»H-Heilige Ludkhannah!«, Fonso war ungewöhnlich blass geworden.
»Wo ist Herr Froderick?«, flüsterte Sophia.
Cara glaubte, ein schwaches Wimmern zu vernehmen. Vage erhaschte sie eine leichte Bewegung unter den Trümmern
»Herr Froderick!«, schrie Cara auf und stürzte zu ihm, gefolgt von den Geschwistern.
Hastig gruben die Freunde den Erfinder frei. Emilius begann sich leise zu regen und schlug langsam die Augen auf.
»Hallo Kinder«, hustete er. Er versuchte, sich mühsam aufzurichten. »Was macht ihr denn hier? Seid ihr denn gar nicht auf dem Fest?«
Ungläubig starrten die Freunde ihn an.
»Herr Froderick, sind Sie … ist alles in Ordnung mit ihnen?« Besorgt schaute Cara ihn an.
Der Erfinder machte einen sehr geschwächten Eindruck. Zusammen mit den Geschwistern half Cara ihm vorsichtig auf die Beine.
Emilius schaute sich langsam in seiner Werkstatt um. Der Schwefelgeruch stieg ihm in die Nase, und er musste niesen.
»Oh, oh, oh«, jammerte er. »Alles ist hin. Alles ist hin. Verfluchte Ringelschnauz und Harpyienkadaver aber auch!« Betrübt schüttelte er den Kopf. »Meine ganze Arbeit … alles zerstört, alles umsonst.« Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm und ein Zittern lief durch seinen Körper.
Dann riss er sich zusammen. »Kommt«, wandte er sich an Cara, Sophia und Fonso, »lasst uns in die Küche gehen.« Würdevoll lehnte er ihre Hilfe ab, als sie ihn stützen wollten. Bekümmert betrachtete er noch einmal sein zerstörtes Atelier, bevor er die Tür hinter sich schloss.
Emilius Küche bot ein liebenswürdiges Durcheinander, das ganz seinem Wesen zu entsprechen schien. Der bunte Kachelofen und die urigen Holzmöbel verliehen dem Raum einen anheimelnden Charakter. Ein leichter Zimtgeruch, vermischt mit dem Aroma von Gewürznelken, hing in der Luft.
Dem Erfinder wurde jetzt doch schwindelig, und die Freunde bestanden darauf, dass er sich setzte.
»Ich m-mach uns etwas T-Tee«, sagte Fonso und begann sofort, emsig in der Küche herumzufuhrwerken.
»Gute Idee, Fons«, sagte Sophia, während sie dem Erfinder half, sich hinzusetzen.
»Danke, mein Kind«, ächzte Emilius, der jetzt aschfahl im Gesicht war.
Sophia und Cara beobachteten ihn besorgt.
»Wir sollten lieber Leondra und Sara Bescheid sagen, meint ihr nicht?«, sagte Sophia.
»Nein, nein«, wehrte Emilius ab. »Die werden doch dringend bei den Festwettkämpfen gebraucht, und ich will keine Umstände machen. Es wird schon wieder, es wird schon wieder«, lächelte er mühsam.
Beunruhigt runzelte Cara die Stirn, dann schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. »Herr Froderick, haben sie zufällig Lunennektar im Haus?«
»Da müsste noch eine Flasche im oberen Küchenschrank links neben dem Kachelofen sein.«
Cara beeilte sich, Emilius ein Glas einzuschenken, und nachdem er die ersten Schlucke des goldenen Elixiers getrunken hatte, kehrte seine rosige Gesichtsfarbe zurück. Cara und die Geschwister atmeten erleichtert auf. Fonso hatte inzwischen alle mit Tee versorgt, und Cara nahm einen Schluck aus ihrem dampfenden Becher.
»Was ist denn bloß passiert, Herr Froderick?«
Der Erfinder, der inzwischen sein Glas geleert hatte und sich zusehends erholte, schüttelte den Kopf.
»Ich bin mir nicht ganz sicher. Meine neue Erfindung … ich war mir sicher, dass alle Berechnungen stimmten, habe sie immer wieder überprüft … Eine der Gleichungen war wohl doch nicht ganz richtig. Ich hätte schwören können, dass …« Wieder schüttelte er den Kopf. »Dann kann ich mich nur noch an eine riesige Explosion erinnern, und alles wurde schwarz um mich.«
»Is ja ‘n W-Wunder, dass Sie noch g-ganz sind«, bemerkte Fonso.
»Ach, so leicht bin ich nicht unterzukriegen, mein Junge«, lächelte Emilius. »Und zum Glück seid ihr dann ja gekommen.«
»Sie sollten wirklich vorsichtiger sein in der Zukunft.« Sophia machte ein ernstes Gesicht.
»Ja, wer weiß, was sonst noch alles passiert«, stimmte Cara ihr zu.
»Nu macht euch mal keine Sorgen«, beruhigte er sie. »Ich bin noch lange nicht bereit, in das Sphärentor zur Ewigkeit zu springen.«
Cara war für einen Moment verwirrt, dann verstand sie, was er meinte. »Woran haben Sie denn überhaupt gearbeitet?« Die Frage brannte ihr schon seit geraumer Zeit auf der Zunge.
Alle drei blickten den Erfinder neugierig an.
Emilius richtete sich auf. »An einem Metatransmorphus«, verkündete er stolz.
»An einem … was?«, fragte Cara entgeistert. Die Freunde schauten ihn verständnislos an.
»An einem Metatransmorphus«, wiederholte Emilius. »Das ist ein Apparatus, der alle möglichen Schwingungen auffängt, analysiert und darüber hinaus in der Lage ist, Energien, Gedanken und Gefühle in einem Wesen zu transformieren, also umzuwandeln.« Der Erfinder hielt für einen Moment inne. »Besser gesagt, wäre in der Lage gewesen, wenn nicht alles in die Luft geflogen wäre«, fügte er dann etwas kleinlaut hinzu.
»Verstehe ich nicht«, sagte Cara, die versuchte, das soeben Gehörte zu verdauen. »Wozu soll das denn gut sein? Ich will doch nicht, dass mir einer meine Gedanken und Gefühle durcheinanderbringt und einfach verändert.«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Emilius ernsthaft. »Mein Ziel war gewesen, so zur Bekämpfung des Bösen beizutragen. Also, das Böse zum Guten zu bekehren.
»Das B-Böse?«, fragte Fonso wie nebenbei.
»Ja, die Schwarze Macht und ihre Anhänger natürlich.«
Die Freunde schauten den Erfinder atemlos an und wagten nicht, ihn zu unterbrechen.
Der hatte sich regelrecht ereifert. »Wenn wir nur ihres Anführers habhaft werden würden, dann könnte ich, ich meine, hätte ich ihn mit meinem Metatransmorphus in ein gutes, friedliebendes Wesen umwandeln können.« Seine Augen glänzten und er schien sich in Zukunftsträumereien zu verlieren.
Cara, Fonso und Sophia wechselten heimlich Blicke.
»Ähm, Herr Froderick«, tastete Cara sich vorsichtig vor, »wer ist denn der Anführer der Schwarzen Macht?« Ihr Herz pochte und die Geschwister hielten den Atem an.
»Ach«, seufzte er, »wenn wir das nur wüssten! Lange Zeit konnten sich die Dunklen Kräfte anscheinend nicht einigen. Sie waren ziellos und zersplittert seit dem Tod von -« Emilius erstarrte und schlug sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund. »Ach, du liebes Sphärentor! Ihr seid doch noch gar nicht volljährig. Was hab ich nur angerichtet?«, jammerte er.
»Sie haben doch gar nichts verraten«, beeilte Cara sich zu sagen, die Mitleid mit dem Erfinder hatte, der jetzt ganz verzweifelt war.
»G-Genau. Nichts, w-was wir sowieso schon w-wussten«, beteuerte Fonso treuherzig.
»Stimmt.« Sophia räusperte sich. »Cara und Fonso haben recht.« Die Notlüge ließ sie leicht erröten.
»Tatsächlich?« Emilius Miene hellte sich auf.
Die Freunde nickten eifrig.
»Puh, das war knapp! Das war knapp!« Erleichtert wischte er sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Na, ich werde mich mal besser dran machen, mein Atelier aufzuräumen. Ein Stoßseufzer entfuhr ihm.
»Wir helfen ihnen!«, sagten Cara und Sophia wie aus einem Mund.
»Wirklich?« Emilius strahlte sie an.
»K-Klar doch«, bekräftigte Fonso.
Emilius rieb sich die Hände. »Na, denn mal los!«
Sie verbrachten den gesamten Nachmittag mit den Aufräumarbeiten und schrubbten die Wände und Decke. Der Ruß war an einigen Stellen äußerst hartnäckig.
»Verfluchte Ringelschnauz und Harpyienkadaver!«, entfuhr es Emilius. »Schwarzer als die Schwarze Macht«, fügte er murmelnd hinzu.
Cara hielt einen Moment inne. »Herr Froderick, wer war eigentlich Magan Magus?«
Sophia und Fonso hörten auf zu schrubben.
Der Erfinder rückte seine Brille zurecht, die ihm beim wilden Putzen von der Nase gerutscht war. »Ah, Magan Magus! Großartiger Mann. Ganz großartig«, schwärmte er. »Wohl der mächtigste Zauberer der Weißen Magie, den ganz Gwyndharis je gesehen hat. Keiner weiß, was damals wirklich geschehen ist. Lebt nicht mehr. Er verschwand vor langer Zeit, als -« Emilius Froderick lief knallrot an. »Ach, du stinkende Harpyie! Das war knapp! Das war knapp!« Er verstummte und wandte sich wieder verbissen dem Schrubben zu.
Cara, Fonso und Sophia sahen sich verschwörerisch an, nahmen dann jedoch das Putzen wieder auf.
Schließlich befand sich der Raum wieder in einem annehmbaren Zustand. Emilius schaute sich recht zufrieden in seinem leeren Atelier um. »Das sollte fürs Erste genügen«, sagte er. »Vielen Dank, Kinder. Das hätte ich ohne eure Hilfe gar nicht geschafft.«
»Gern geschehen«, sagte Sophia.
»War doch selbstverständlich, Herr Froderick«, lächelte Cara den Erfinder an. »Wenn Sie wieder mal Hilfe brauchen, sagen sie nur Bescheid.«
»Jupp«, Fonso nickte eifrig.
»Zu liebenswürdig, meine Lieben. Zu liebenswürdig.« Emilius strahlte.
»Was werden sie denn jetzt machen?«, wollte Cara wissen.
»F-Fangen Sie noch mal von v-vorne an mit dem … eh … Metatransphormus?« Fonso war fasziniert von der Idee dieser Erfindung.
»Metatransmorphus, mein Junge, Metatransmorphus«, verbesserte Emilius ihn liebenswürdig. »Erst mal muss ich mir meine Werkstatt wieder einrichten, bevor ich meine Berechnungen noch einmal überprüfen werde. Und dann, wir werden sehen, wir werden sehen.« Nachdenklich zupfte er sich am Bart.
»Sind denn alle ihre Erfindungen zerstört worden?«, fragte Cara bedauernd.
»Ich fürchte ja, mein Kind.« Emilius lächelte betrübt.
»Oh je, nicht doch auch ihr Launenbarometer, oder?«, rief Sophia aus.
Ein Strahlen ging plötzlich über das Gesicht des Erfinders.
»Du hast ja ganz recht! Oh, was für ein Glück! Das hängt ja in meinem Studierzimmer. Was für ein Glück!«
»Launenbarometer?« Cara war völlig verdutzt. »Was ist denn das?«
»Die exakte Bezeichnung ist Barometer der Gemütsverfassung. Komm, ich zeig‘s dir.«
Aufgeregt eilte Emilius Cara und den Geschwistern voraus. Das Studierzimmer des Erfinders quoll über mit Büchern, und vor dem breiten Flügelfenster befand sich ein riesiges Teleskop aus Messing auf einem dreibeinigen Holzständer. Emilius blieb vor einem Gegenstand stehen, das aussah wie eine in die Breite gezogenen Wanduhr.
»Darf ich vorstellen: Das Barometer der Gemütsverfassung.« Stolz schwang in der Stimme des Erfinders und seine Wangen glühten.